Anfang Mai gibt die Europäische Kommission den Finanzrahmen für die Jahre 2021-2027 bekannt. Kein Wunder, dass die Verkehrsminister aus Estland, Lettland und Litauen derzeit für ihr Prestige-Projekt Rail Baltica Klinken putzen – in Brüssel, aber auch bei den Nachbarn in Helsinki und Warschau. Ob Brüssel den vollen Zuschuss für die fünf Milliarden Euro Baukosten der Nord-Süd-Schienentrasse freigibt, ist keineswegs sicher.
Von Lars Björn Gutheil (AHK)
Drei Wochen vor der Veröffentlichung des neuen EU-Finanzförderrahmens (MFF) bringen sich die baltischen Transportminister in Stellung. Selten erlebte man die Repräsentanten Estlands, Lettlands und Litauens auf Kuschelkurs wie in diesen Tagen. Und der gilt nicht nur einander, sondern ganz bewusst auch den Nachbarn in Finnland und Polen. Kein Wunder: Wenn die EU-Kommission am 2. Mai 2018 das Förderprogramm der Jahre 2021-2017 verkündet, steht das Schienen-Prestigeprojekt Rail Baltica auf dem Spiel. Dass die 5,8-Milliarden-Euro-Trasse zwischen Tallinn und Warschau leer ausgeht, ist zwar sehr unwahrscheinlich. Doch in den vergangenen Monaten kriselte es zunehmend zwischen Brüssel und den drei baltischen Hauptstädten. Außerdem drücken Themen wie Brexit, Migration und Russlandkrise aufs europäische Budget. Nach der Bekanntgabe des Förderrahmens wird dieser mit allen Mitgliedsstaaten diskutiert. Deshalb sind Partnerschaften gefragt, um die ausstehenden Projektkosten von fünf Milliarden Euro in voller Höhe über die Ziellinie zu bringen.
So erlebte man die baltischen Minister in dieser Woche auch außergewöhnlich harmonisch, als sie in der estnischen Hauptstadt Tallinn gemeinsam das jährliche „Rail Baltica Global Forum“ eröffneten. In blaues Licht getaucht und freundlich Komplimente verteilend, betonten sie eine „neue Dimension der Verbundenheit“. Ab 2026 werde die 950 Kilometer lange Schnellschiene zwischen den baltischen Staaten für „Nutzen und Wohlstand sorgen“, wie es die estnische Transportministerin Kadri Simson formuliert.
Die demonstrative Freundschaft ist allerdings bestenfalls ein paar Wochen alt. Noch im März hatte die litauische Seite vergeblich versucht, die lettische Chefin des gemeinsamen Konsortiums, Baiba Rubesa, von ihrem Posten zu verdrängen. Angesichts anhaltender Streitigkeiten und Verzögerungen sah sich Brüssel vor einigen Wochen gezwungen, den drei Staaten eine Frist zu setzen und die Zahlung von 110 Millionen Euro einzufrieren, bis über den Projektfortgang entschieden sei. „Der Nord-Süd-Korridor im Baltikum hat strategische Bedeutung für die Europäischen Union“, sagt der Finne Petri Sarvamaa, Vice Chair der Budgetkommission im Europäischen Parlament: „Doch Europa wird weitere Gelder nur zahlen, wenn sich die Balten über offene Fragen rasch einigen. Wir sind noch keineswegs am Ziel.“
Angesichts solcher Worte übt sich die Politik nun im demonstrativen Schulterschluss. „Alle beteiligten Staaten sollten ihre höchste Priorität darin sehen, stärker zu kooperieren“, betont etwa der lettische Minister Uldis Augulis. Dabei war es ausgerechnet Augulis, der das Projekt zugunsten einer Schiene zwischen Riga und Moskau zurückstellen wollte. In der Folge strich die EU Lettland mehr als zwölf Millionen Euro Fördermittel. Brüssel stellte unmissverständlich klar, keine Bahnstrecke nach Russland finanzieren zu wollen.
Das Schienenprojekt Rail Baltica soll die langsame, noch aus Sowjetzeiten stammende Nord-Süd-Trasse des Baltikums durch eine Hightech-Strecke in europäischer Spurbreite ersetzen. In Riga wird die Linie auch den Flughafen anfahren, in Litauen soll es eine Stichstrecke von der Rail-Baltica-Station Kaunas in die Hauptstadt Vilnius geben. Visionäre träumen bereits von einem Untersee-Tunnel, der von Tallinn bis nach Helsinki weitergezogen werden könnte. Er würde allerdings weitere 13 Milliarden Euro kosten. Doch egal ob er kommt oder nicht: Durch den neuen Schienen-Korridor wird die gesamte Region endlich ans europäische Transportnetz (TEN-T) angeschlossen. Heute braucht ein Bahnreisender von Riga nach Berlin noch 43 Stunden und muss in Minsk umsteigen. Künftig sollen es weniger als sieben Stunden sein.
Damit diese Vision nicht noch auf den letzten Metern ins Wanken gerät, suchen die Balten nun offenbar Verbündete für die anstehenden Finanzverhandlungen. „Die letzte Station von Rail Baltica heißt nicht Tallinn, sondern Helsinki“, sagt etwa Kadri Simson. Finnland und Polen sind zwar in das Projekt eingebunden. Simson will jedoch, dass die nördlichen Nachbarn sich noch stärker positionieren.
Simsons litauischer Kollege Rokas Masiulis geht noch weiter. Die polnischen Nachbarn seien natürliche Verbündete - und das nicht nur im wirtschaftlichen Sinne. „Wir leben ins schwierigen Zeiten“, so Masiulis mit Blick auf die aktuelle Krise mit Russland: „Eine schnelle Schienenverbindung bedeutet auch eine höhere militärische Mobilität.“ Rail Baltica also nicht mehr als Wirtschaftsprojekt, Garant für Reisefreiheit und Wohlstand, sondern als Baustein europäischer Sicherheitspolitik? Das hat man so noch nicht gehört. Masiulis aber betont jetzt, für die Litauer sei Schutz „eine der wichtigsten Facetten“ des Projekts. Unterstützung erhält er von Catherine Trautmann, EU-Koordinatorin für den Nordsee-Baltikum-Korridor. „Das Engagement Polens liegt auf dem Feld der Sicherheit“, sagt diese: „Solidarität ist das Bindeglied, das diese Nachbarstaaten zusammenhält, und diese schützt auch den Frieden in diesen Ländern.“
Herald Ruijter, Verantwortlicher der EU-Kommission für Investment, Innovation und nachhaltigen Transport, bremst die Erwartungen: „Ich glaube nicht, dass Militärbewegungen hier eine Lösung für laufende Diskussionen bringen“, sagt er. „Die Beteiligten sollten sich auf die Entwicklungsfonds und ihre Voraussetzungen konzentrieren. Alles andere kann nur ein ‚Ad on‘ sein.“